Kirchen und Holocaust: »Wir klagen uns an«

Kirchen und Holocaust: »Wir klagen uns an«
Kirchen und Holocaust: »Wir klagen uns an«
 
Die religiöse Diffamierung und die gesellschaftliche Ächtung des jüdischen Volkes reichen bis in die frühe Phase des Christentums zurück. Jesus von Nazareth wurde als Jude geboren und war in dem »von Gott erwählten Volk« Israel verwurzelt. Seine Nachfolger lebten ebenfalls in der jüdischen Glaubensüberlieferung. Doch alsbald nach Jesu Kreuzigung und Auferstehung wurde der Vorwurf erhoben, dass Israel den Messias nicht angenommen und damit seine Erwählung und Bestimmung als »Volk Gottes« verwirkt habe. Die Erwählung beanspruchte nunmehr die christliche Kirche für sich. Damit nahm das antijüdische Denken in der christlichen Tradition seinen Anfang.
 
Im Spannungsfeld von religiöser Selbstbehauptung und zeitweiliger, meist zweckgebundener Toleranz der jeweiligen Machthaber wurde die Geschichte der Juden im christlichen Abendland zu einer Leidenskette von Zwangstaufen, Vertreibung, Verfolgung und Bedrohung ihres Besitzes wie ihres Lebens. Auch der Geist der Aufklärung konnte den jüdisch-christlichen Antagonismus nicht aufheben. Wie die mittelalterliche Kirche verlangte auch die christliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts von den Juden die religiöse Selbstaufgabe als Preis für ihre Gleichberechtigung. Der zeitgenössische Nationalismus verschärfte den »Antisemitismus« zum »völkischen« Judenhass. An die Stelle des Vorwurfs der »Verstocktheit« der Juden trat ein »rassisch« begründetes Feindbild, das die »niedere Rasse der Juden« vor Augen hatte. Die völkisch-nationale Ideologie stempelte Jesus zum »Arier« und zerriss das ursprüngliche Band zwischen Judentum und Christentum. Mit dem Antisemitimus dieser Ausprägung war der Boden für die physische Vernichtung der Juden bereitet.
 
In seinem Buch »Mein Kampf« kennzeichnete Adolf Hitler die Juden als Verkörperung des Bösen sowie als Feinde der »germanischen Rasse« und des deutschen Volkes. Schon das Parteiprogramm der Nationalsozialisten von 1920 kündigte den Ausschluss der Juden aus der Volksgemeinschaft an. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 kam es zu ersten Ausschreitungen gegen Juden und zum Boykott jüdischer Kaufleute, Ärzte und Rechtsanwälte. Das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 führte zur Zwangspensionierung jüdischer Beamter; der »Arierparagraph« verlangte die Entlassung von Nichtariern auch aus dem kirchlichen Dienst. Mit den »Nürnberger Gesetzen« vom 15. September 1935 wurden die Juden aus der Gesellschaft verbannt; sie verloren das Reichsbürgerrecht, und den Reichsbürgern »deutschen oder artverwandten Blutes« wurde die Eheschließung mit Juden verboten. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 - von der nationalsozialistischen Propaganda zynisch als »Reichskristallnacht« bezeichnet - brannten in Deutschland die Synagogen. Im Gefolge dieses Pogroms wurde das jüdische Eigentum konfisziert. Ab 1941 mussten Juden an ihrer Kleidung den »gelben Davidstern« tragen. Am 20. Januar 1941 bekräftigte die »Wannsee-Konferenz« nationalsozialistischer Spitzenfunktionäre die »Endlösung der Judenfrage« und beschloss organisatorische Maßnahmen zur physischen Ausrottung des jüdischen Volkes im deutschen Machtbereich. Der plan- und fabrikmäßig durchgeführte Massenmord an mehr als sechs Millionen Juden erfolgte in 22 Konzentrations- und Vernichtungslagern; allein in dem Arbeits- und Vernichtungslager Auschwitz wurden eine Million Menschen jüdischer Herkunft in Gaskammern getötet. Mit dem Bekanntwerden der beispiellosen Ausrottung der jüdischen Bevölkerung in Europa wurde der Begriff »Holocaust« - nach dem Opfer, bei dem die Opfergabe gänzlich verbrannt wird - weltweit zum Synonym für die konsequente Massenvernichtung der Juden.
 
Während der nationalsozialistischen Herrschaft konnten sich die Kirchen nicht zu einem offiziellen Protest gegen die Judenverfolgung entschließen. Ein latenter Antisemitismus in den Kirchen und das Interesse an der eigenen Existenz motivierten das Schweigen. Es waren einzelne Kirchenvertreter oder kleine Gruppen innerhalb der Kirchen, die öffentlich gegen die Einführung des »Arierparagraphen« und die Propagierung des Judenhasses protestierten. So forderte Dietrich Bonhoeffer angesichts der »Judenfrage« ein »evangelisches Konzil«. Martin Niemöller erklärte den »Arierparagraphen« als bekenntniswidrig. Heinrich Grüber richtete 1937 das »Büro Grüber« ein, das Hilfe für nichtarische Christen leistete. In Denkschriften der Bekennenden Kirche wurden zwar die Ideologie und Politik des NS-Staates kritisiert, der Antisemitismus wurde jedoch nicht explizit verurteilt. Desgleichen proklamierte die katholische Kirche in der Enzyklika »Mit brennender Sorge« 1937 zwar die Unvereinbarkeit des christlichen Glaubens mit den nationalsozisalistischen Prinzipien, aber ein öffentlicher Appell gegen die nationalsozialistische Judenpolitik erschien dem Papst unzweckmäßig. Der Vatikan beschränkte sich auf einzelne Hilfeleistungen für »rassisch nicht-arische Personen« und entsprach damit der amtskirchlichen Tradition, die karitative Möglichkeit nicht durch lauten Protest zu gefährden.
 
Obgleich es in der Geschichte des Christentums hin und wieder judenfreundliche Strömungen und Gruppen gegeben hatte, führte doch erst die Schockwirkung des Holocaust zu einem grundsätzlichen Umdenken in der christlichen Betrachtung des Judentums. Als Reaktion auf die Judenverfolgung entstand 1940 in England der »Council of Christians and Jews«, der ein dialogisches Verhältnis zwischen. Christen und Juden anstrebte. In anderen Ländern wurden ähnliche Gesellschaften gegründet, die sich 1974 zum »Internationalen Rat von. Christen und Juden« (ICCJ) zusammenschlossen. Die Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Amsterdam 1948 bezeichnete den Antisemitismus als »Sünde gegen Gott und die Menschen«. Kirchliche Erklärungen plädierten für eine Erneuerung des Verhältnisses von. Christen und Juden; sie bekannten sich zur christlichen Schuld und Mitverantwortung für den Holocaust und sprachen die Überzeugung aus, dass die Kirchen die Achtung vor dem jüdischen Volk und seine Erwählung als wesentlichen Bestandteil des christlichen Glaubens begreifen müssen. Im katholisch-jüdischen Verhältnis gab die Erklärung »Über unser Zeitalter« des zweiten Vatikanischen Konzils 1965 den Anstoß zu einem Umdenken; ihr folgten 1975 Richtlinien für die Beziehungen zum Judentum. Der Vatikan und der Ökumenische Rat der Kirchen gründeten Verbindungskomitees für das jüdisch-christliche Gespräch.
 
Das Bemühen um ein dialogisches Verhältnis von Kirche und jüdischem Volk basiert auf der Bindung an die für Juden und Christen gemeinsame Heilige Schrift, das Alte Testament. Der christliche Glaube entstammt jüdischen Wurzeln, und Gottes Erwählung des jüdischen Volkes ist Teil auch der christlichen Offenbarung. In den theologischen Fragen geht es um das Bekenntnis zum einen und selben Gott sowie um den Glauben an Jesus, den die Christen als Messias bekennen, während die Juden nach wie vor die messianische Zeit erwarten. Unerlässlich ist eine Verhältnisbestimmung von Kirche und Israel, weil beide die Zuwendung Gottes beanspruchen. Mit dem Holocaust ist die »Judenfrage« zu einer »Christenfrage« geworden.
 
Prof. Dr. Dr. Erwin Fahlbusch
 
 
Daiber, Karl-Fritz: Religion unter den Bedingungen der Moderne. Die Situation in der Bundesrepublik Deutschland. Marburg 1995.
 
Geschichte des Christentums. Band 3: Krumwiede, Hans-Walter: Neuzeit. 17.—20. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 21987.
 Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung. Graz u. a. 21990.
 Scholder, Klaus: Die Kirchen und das Dritte Reich.2 Bände. Neuausgabe Frankfurt am Main u. a. 1986—88.

Universal-Lexikon. 2012.

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